Einführung
Stolpersteine in Bremerhaven
Zehn Mal zehn Zentimeter Messing gegen das Vergessen. Hinter jedem Stolperstein steckt ein Schicksal, ein Leben,
oft eine ganze Familie.
Die Betonquader mit Messingplatten werden in die Bürgersteige vor den Häusern verlegt, in denen Opfer des NS-Regimes einst lebten.
Stolpersteine in Bremerhaven
Sie wurden verschleppt, deportiert, inhaftiert, getötet. Seit 1992 erinnert der Straßenkünstler Gunter Demnig mit seinen Stolpersteinen an die Opfer des Nationalsozialismus.
Mittlerweile an mehr als 1000 Orten europaweit. Seit 2006 gibt es diese besondere Form des Erinnern an die NS-Opfer auch in der Seestadt. 105 Namen kehren so wieder zurück.
Künstler Gunter Demnig
Ein Leben für die Stolpersteine
"Wer sich bückt, um die Inschrift der Stolpersteine zu lesen, der verbeugt sich vor den Opfern."
Gunter Demnig
Im Auftrag des Erinnerns
Im Auftrag des Erinnerns
Steine verlegen. Das ist seine Arbeit. Seine Kunst. Sein Leben. Die Stolpersteine liegen mittlerweile in Österreich, Belgien, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Italien, Kroatien, Luxemburg, den Niederlanden, Norwegen, Österreich, Polen, Rumänien, Russland, Schweiz, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ukraine und Ungarn.
Mehr als 56 000 Erinnerungen hat er zurückgebracht. In 1600 Orte hat er die Stolpersteine verlegt. Und ein Ende ist nicht abzusehen.
Einen Termin bei dem Künstler mit dem breitkrempeligen Hut zu bekommen, ist schwer. Die ehemalige Bremerhavener Kulturamtsleiterin Gisela Lehrke war froh über jeden einzelnen. Wer ein Datum für die nächste Stolpersteinverlegung wissen wollte, wurde vertröstet: "Wir müssen schauen, wie der Terminkalender des Künstlers aussieht."
Gunter Demnig ist kein Mann der großen Worte. Manchmal fehlt ihm einfach die Zeit. Denn für die Andacht, so sagte er mal in einem Interview, sei er nicht zuständig. Er könne sich die Geschichte der Euthanasie nicht immer wieder anhören. Das mag einem trauernden Angehörigen hart erscheinen. Doch für Gunter Demnig ist das Projekt Stolperstein zur Routine geworden. Eins mit Zeitdruck. Geschichten, Schicksale im Halbstundentakt.
Für die er sich aber auch Zeit nimmt. Auch auf der Hochzeitsreise. Nach Asien, wohin er vier Stolpersteine mitgenommen hat. Von den Opfern hat er durch einen Zufall erfahren. "Das passte dann." Sagt er und lacht.
Für die einen ist ein Stolperstein ein Leben, das zurückkehrt. Eine Erinnerung. Für den Künstler ist es mehr. Auch wenn er "nur" Steine verlegt, so ist die Stolperstein-Initiative zum größten dezentralen Mahnmal der Welt geworden. Eine Aufgabe, die ihn erfüllt. Die ihn aber auch manchmal kauzig erscheinen lässt.
Das Auto als zweites Zuhause
Der Steineklopfer
Der Steineklopfer
Jeder einzelne Buchstabe. "Hier wohnte..." so fängt der Schriftzug auf der zehn Mal zehn Zentimeter großen Messingplatte an. Michael Friedrichs-Friedländer schlägt jeden Buchstaben mit der Hand in das Messing ein. Mit einem Hammer. Einem Stahlstempel. Mit einem einzigen Schlag. Buchstabe für Buchstabe.
Gunter Demnig hat sich bewusst für dieses Konzept entschieden. Handarbeit im Gegensatz zu Massenmord. Am Anfang des Projekt hat Demnig die Steine noch selbst gefertigt. Doch es waren zu viele Tote, er kam irgendwann nicht mehr hinterher. Seitdem beschriftet Friedländer die Stolpersteine. Und Demnig verlegt sie.
"Jeder Stein ist ein Schicksal"
"Jeder Stein ist ein Schicksal"
Aber nicht jeder Tag ist ein guter. "Mich lässt kein Opfer kalt", sagt er. Die Vorstellung, welches Leid diese Menschen ertragen mussten, erträgt er selbst kaum. "Jedes Mal läuft im Kopf ein Film ab." Auch wenn er schon Tausende Steine beschriftet hat, so ist diese Arbeit für ihn zu keinem Zeitpunkt Routine geworden.
"Jeder Stein ist wichtig, jeder steht für ein Schicksal", sagt Friedländer. Deshalb ist er zwar froh, wenn er abends wieder in seine Wohnung fährt. Dennoch ist er auch stolz darauf, seinen Teil zu dem Projekt beizutragen.
Nur einmal hat er Demnig begleitet. Friedländer bleibt lieber im Hintergrund. Wo er dann auch für sich ist, wenn ihn die Gefühle überrennen. Wenn ihn die Schicksale zu sehr mitnehmen. Dann sitzt er in seiner Werkstatt und weint.
Von der Mitte aus schlägt er die Zahlen und die Buchstaben ins Messing. Das sei der Unterschied zur Gravur. Für die Stolpersteine hat er sich eigens eine Vorrichtung gebaut. Fehler seien ihm auch schon passiert. Aber nur wenige. Nicht immer lasse sich das korrigieren.
Friedländer habe auch noch andere Projekte. Aber bei 20 bis 30 Stolpersteinen pro Tag bleibe ihm für andere Dinge nur wenig Zeit. "Zu 98 Prozent bin ich ein Stolperstein-Hersteller." Und zwar einer, der immer pünktlich liefert.
Die jüdische Gemeinde in Bremerhaven
Die letzte Ruhestätte
Die letzte Ruhestätte
Der wirtschaftliche Aufschwung lockte jüdische Familien an die Unterweser. Die israelitische Gemeinde zählte 1913 217 Juden in Lehe-Geestemünde, 1933 gehörten ihr 300 Menschen an. Der Friedhof wurde mehrfach vergrößert. 1925 kam auch ein "repräsentativer Andachtsraum" dazu.
Die Synagoge mit 300 Sitzplätzen und einer Religionsschule wurde 1878 eingeweiht. Sie war in der Schulstraße 5. Heute erinnert ein Granitblock daran, was in der Reichsprogromnacht passierte.
Im November 1938 organisieren SA- und NSDAP-Mitglieder Ausschreitungen gegen Juden. Jüdische Geschäfte werden nicht nur zerstört, sondern auch geplündert. Die Synagoge brennt, der jüdische Friedhof wird geschändet. Fast alle jüdischen Gemeindemitglieder werden verhaftet und ins Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht. Wer kann, wandert aus.
Ein Jahr später verlieren jüdische Familien ihre Wohnungen und Häuser, sie werden in sogenannten Judenhäuser zusammengelegt. Unter anderem in der Wurster Straße 106 (Villa Schocken), in der Lange Straße 143 sowie in der Raabestraße 20.
Die Trümmer der niedergebrannten Synagoge müssen im gleichen Jahr auf Kosten der jüdischen Gemeinde abgetragen werden. 1941 werden die Juden am Geestemünder Bahnhof über Bremen nach Minsk ins Ghetto deportiert. Keiner von ihnen kehrt zurück.
Die älteren Juden bleiben vorerst verschont, sie werden im Juni 1942 nach Theresienstadt deportiert. Ebenso wie Juden aus "Mischehen", die noch 1945 nach Theresienstadt deportiert werden.
1945: Die jüdische Restitutionsnachfolger-Organisation wird Eigentümer des alten jüdischen Friedhofs. Nach dem Urteil der Spruchkammer müssen ehemalige NSDAP-Mitglieder den jüdischen Friedhof wegen der erlittenen Bombenschäden wieder herrichten.
Der Magistrat verpflichtet sich unterdessen 1954, für den Unterhalt und die Pflege des Friedhofs zu sorgen. Er geht 1963 in den Besitz der jüdischen Gemeinde über.
Im November 2000 kehrt die Thora zurück nach Bremerhaven. Im Blinkviertel wird das jüdische Gotteshaus eingeweiht. 2014 übergibt Oberbürgermeister Melf Grantz einen neuen jüdischen Friedhof an der Spadener Höhe. Auf dem alten Friedhof sind 253 Grabsteine.
Schicksale
Familie Schocken
Als am 10. November 1938 brennt die Synagoge in der Schulstraße. Die "Reichskristallnacht" ist für viele Juden ein weiteres Signal: Sie müssen fliehen. In dieser Nacht setzen sich die nationalsozialistischen Schlägertrupps in Gang und brennen nicht nur Synagogen nieder.
Den Kindern Hilde und Heinz gelingt 1938 die Flucht. Jeanette Schocken bleibt. Sie will ihre schwerkranke Tochter Edith Elkeles nicht verlassen. Sie ist nach dem Terror der Reichskristallnacht psychisch so sehr erkrankt, dass sie in eine Bremer Klinik muss. Jeanette Schocken ist mehr Mutter als das sie Angst hat vor dem, was geschehen wird.
Die Flucht ohne Mutter
Die Flucht ohne Mutter
Hilde Schocken hat in der Wurster Straße gelebt. Ein normales Leben. Ihr Vater Julius war bereits 1934 gestorben. Ihre Mutter Jeanette führte anschließend die beiden Kaufhäuser weiter. Das erste in der "Bürger", genau gegenüber der Großen Kirche, das andere in Geestemünde, das ehemalige Kaufhaus "Hirsch".
Florierende Geschäfte. Die zwei Schocken-Kaufhäuser in Bremerhaven und Geestemünde sind rechtlich selbstständig, gehören aber organisatorisch zur Konzernzentrale in Zwickau. Seit den 30er Jahren gehören die Schocken-Kaufhäuser nach Karstadt, Wertheim und Tietz zur viertgrößten Kaufhauskette mit 28 Filialen und rund 5000 Mitarbeitern.
Von einer Nacht auf die andere ist nichts mehr wie es war. Am 9. November 1938 brennt auch in Bremerhaven die Synagoge. Tausende Juden werden misshandelt, ermordet. Verhaftet. Auch Heinz Schocken. Und sein Schwager Walter Elkeles. Nach ihrer Freilassung bereiten sie ihre Flucht vor.
Das Kaufhaus Schocken in Geestemünde ist nach der Reichskristallnacht nur noch ein Trümmerhaufen. Auch das Kaufhaus gegenüber der Großen Kirche steht auf der Liste der Gebäude, die niedergebrannt werden sollen. Doch der diensthabende Brandmeister hielt die Meute davon ab. Allein aus einem Grund: Die Feuerwehr hatte nicht genügend Kräfte, um die angrenzenden Gebäude zu schützen.
Die Ära Schocken in Bremerhaven endete allerdings schon vorher. Die Familie musste die Kaufhäuser zwangsweise verkaufen, nachdem der Konzern im Sommer 1938 "arisiert" wurde.
Die Villa als Fluchtort
Die Villa als Fluchtort
Doch auch damit ist im November 1941 Schluss. Am 17. November müssen sich die "Volljuden" am Hauptbahnhof in Geestemünde einfinden. Zuvor wurden sie angewiesen, Gas und Elektrizität abzuschalten. Die Vermutung, es sei eine Fahrt zu einem Arbeitseinsatz bewahrheitet sich nicht. Der Transport geht nach Minsk. Ins Vernichtungslager. 570 Juden werden an dem Tag deportiert.
Jeanette Schocken und ihre Tochter Edith Elkeles sind in diesem Zug. Auch Jeanette Schockens Bruder Erich Pinthus und seine Ehefrau Thekla und deren Sohn Max (4). Außerdem deren Haushälterin Karola Salomon, die ehemaligen Schocken-Mitarbeiter Rosa Sydkemski, Heinz Nathan und seine Familie.
Die Villa Schocken. Sie wird ab 1945 von der US-Army beschlagnahmt. Die Besatzer nutzen sie als Offizierskasino. Ab 1947 werden dort ein Jahr lang mehr als Tausende Entnazifizierungsverfahren bearbeitet. Anschließend wird es ein Kindererholungsheim der Arbeiterwohlfahrt.
Ab 1988 ist dort ein Altenpflegeheim. Zur Eröffnung des Hauses schreibt Hilde Mann, geb. Schocken: "Ich habe mit mit meiner Familie über Ihr Unternehmen gesprochen. Ich weiß nicht, ob Sie wissen, daß ich derzeit mit meinem Bruder Heinz Schocken ausgewandert bin." Und: "Wir sehen die Eröffnung eines Hauses, das unseren Namen trägt, als sehr wichtig an und meinen, daß die Widmung von der Familie vertreten werden sollte. Der Name ,Villa Schocken' ist sehr gut."
„Meine Mutter war eine sehr tapfere Frau mit sehr starkem inneren Glauben“, schrieb ihre jüngste Tochter Hilde Mann, als sie die Erlaubnis gab, den Namen ihrer Mutter mit dem Bremerhavener Bürgerpreis für Literatur zu verbinden, der Jeanette-Schocken-Preis.
Die Patenschaft
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